Gunnar Prokop (80) und die SPORTUNION (75) sind in die Jahre gekommen. Aber nur auf dem Papier. Tatsächlich zeichnet beide nach wie vor eine unbändige Schaffenskraft aus. Im Geburtstagsinterview lässt der frühere Peitschenknaller sieben Jahrzehnte gemeinsamer Geschichte Revue passieren.
Innerhalb von 72 Jahren ließe sich so einiges anstellen. Man könnte etwa mit einem Verkehrsflugzeug zum Mars und wieder retour fliegen. Eine Weinbergschnecke begleiten, wie sie sich auf dem Landweg ins persische Isfahan durchschlägt. Oder sich 12.684.872 Mal Andreas Gabaliers Hulapalu anhören. Gunnar Prokop hat sich, eine weise Entscheidung, dazu entschlossen, 72 Jahre lang Mitglied der SPORTUNION zu sein. Damit fehlen ihm nur drei Jahre, um als Mann, respektive als Kind der ersten Stunde gelten zu können. Ein Jubiläum feiert er 2020 trotzdem – seinen 80er am 11. Juli. Damit übertrifft er die ebenso rüstige SPORTUNION um fünf Jahre und stellt sich mit einem Geburtstagsinterview ein.
SPORTUNION: Du hast zum 60. Geburtstag gemeint, du möchtest 100 Jahre alt werden. Fühlst du dich zur Halbzeit gut auf Kurs?
Gunnar Prokop: Wenn du, so wie ich nach dem Skiunfall vom 28.1.2017 in Annaberg, nach einer siebenstündigen Operation zehn Tage im Krankenhaus liegst, wo ernsthaft zur Debatte steht, dass dir wegen der massiven Gewebszerstörungen der Unterschenkel amputiert wird, wenn du vier Monate im Rollstuhl sitzt und alles neu lernen musst, kannst du nur zufrieden sein. Das Ziel ist das Gleiche geblieben: 100 werden – und dann mit dem Golfen anfangen. Meine Beine sind zwar nach den sieben Operationen nicht mehr das, was sie einmal waren – ich spüre zwei Zehen nicht, kann mein Knie nicht mehr ganz abbiegen und durchstrecken, nicht mehr laufen – aber solange es mir möglich ist, Skitouren zu gehen, Mountainbike und Ski zu fahren, ist alles in Ordnung.
Wer hat dir damals geholfen, wieder auf die Beine zu kommen?
Ich mir selbst. Als ich eines Nachts schlaflos im Krankenhaus lag, habe ich mir zwischen zwei Panikattacken feierlich geschworen: »Wenn dir das Bein bleibt, fährst du noch heuer mit dem Rad den Großglockner rauf.« Genauso habe ich es durchgezogen. Ich bin auch 2019 zweimal oben gewesen. Insgesamt kam ich in der letzten Radsaison mit dem Mountainbike auf 80.000 Höhenmeter. Ich habe 50 Jahre lang die Leute als Trainer gequält, jetzt quäle ich mich selber.
Du bist seit 1948 Mitglied der SPORTUNION. Welche Erinnerungen hast du an die ersten Jahre?
Meine Eltern haben meine Schwestern und mich zum Turnen in die Union St. Pölten geschickt. Wir haben an Landes-, an Staatsmeisterschaften teilgenommen, das ganze Programm. Am prägendsten war Fritz Wöll. Der hat uns als Turnlehrer-Legende der SPORTUNION die Liebe zur Natur und zur Bewegung, aber auch das Wettkampfdenken, die Leistungsorientierung, eine ganze Lebenseinstellung eingepflanzt. Unter anderem kann ich mich an eine gemeinsame Österreich-Rundfahrt erinnern. Gewohnt haben wir in einem Zelt ohne Boden. Und unterwegs waren wir mit 3-Gang-Rädern. Mit denen sind wir den Großglockner natürlich nicht raufgekommen. Runter haben wir auch schieben müssen, weil die Bremsen nach zwei, drei Kurven zu glühen begonnen haben.
Durch ihn bist du auch zum Klettern gekommen.
Das war meine große Leidenschaft. Ich habe sogar die Schule deswegen geschmissen. In der siebenten Klasse hatte ich einen Nachzipf in Griechisch, aber ich bin einfach nicht hingegangen. Meine Mutter hat viel geweint, mein Onkel wollte mich mit Geld zuschütten, aber da war nichts zu machen. Ich habe dann in der Sensengasse, wo mein Bruder Ludwig als Vorstand tätig war, begonnen, die staatliche Sportlehrerausbildung zu machen und parallel dazu die Abendmatura bei Dr. Roland zu absolvieren. Ich war in dieser Zeit viel mit meinem Freund Kurt Ring unterwegs, der später am Dhaulagiri verunglückt ist. Wir haben u.a. die Direttissima an der Großen-Zinne-Nordwand mit einmal Biwakieren durchstiegen, die Nordostwand des Monte Rosa und des Piz Badile.
Wie hat deine Funktionärslaufbahn begonnen?
Ich habe innerhalb der Union St. Pölten schon mit 16 eine Jugendgruppe aufgebaut und in den Weihnachtsferien Skikurse für 30 Gleichaltrige auf entlegenen Hütten organisiert. Später hat ein Sektionsleiter für Leichtathletik gefehlt. Da wurde mir gesagt: »Du studierst jetzt eh – das machst du.« Wenig später habe ich in der Sensengasse ein Mädchen hochspringen gesehen – mit einem tollen Sprunggefühl. Sie hat mich dann ihrer Schwester vorgestellt, angeblich eine sagenhaft schnelle Läuferin. Ich habe sie 600 Meter rennen lassen, sie hat viel zu schnell begonnen, ist direkt vor mir nach 400 Metern stehen geblieben, ich habe sie angebrüllt: „Renn weiter!“ Den Juniorinnenrekord hat sie trotzdem unterboten.
Klingt nach deiner späteren Frau Liese und ihrer Schwester Maria Sykora.
Liese ist in ihrem ersten Jahr Staatsmeisterin im Hochsprung geworden – barfuß springend. Damit war das Klettern für mich ad acta gelegt, ihre und meine Saison haben sich zeitlich überlagert. In der Folge habe ich auch Eva Janko und Ilona Gusenbauer zur Union St. Pölten geholt und über weite Strecken ihrer Karriere als Trainer begleitet. Der Erfolg fußte übrigens auch auf intensiver Recherche. Einer meiner Brüder hatte eine Führungsposition an der Humboldt-Universität im damaligen Ostberlin inne. Dadurch kam ich an Literatur, die im Westen sonst niemand hatte. Man muss sich vor Augen halten: Liese hat die Kugel damals über 16 Meter gestoßen, das schafft 50 Jahre später noch kaum eine Mehrkämpferin. Und mit ihren 6,62 Metern im Weitsprung wäre sie 2019 im WM-Finale gestanden.
Euer Lebensmittelpunkt hat sich später von St. Pölten in die Südstadt verlegt. Wie kam das?
In die Südstadt übersiedelte ich mitsamt meinen vier Top-Athletinnen 1965 – des Geldes wegen. Ernst Kaltenbrunner, der Fußballer, hat mich zum KSV NÖ Energie gelockt, dort bekam man wenigstens Fahrtgeld, wenn man bei Meisterschaften angetreten ist. Ich sollte dort jedenfalls eine Leichtathletik-Sektion aufbauen. Ein Jahr später stand plötzlich der Deal, dass die NEWAG NIOGAS, Vorgängerin der EVN, ein Grundstück zur Verfügung stellt, wenn sich das Unterrichtsministerium verpflichtet, darauf ein Sportzentrum zu bauen. So hat in der Südstadt alles begonnen, ich übernahm dann 1972 die sportlich-inhaltliche Bauaufsicht. Davor war ich – damals sehr ungewöhnlich für einen Nicht-Akademiker – fünf Jahre Turnlehrer am Gymnasium in Mödling, wo ich u.a. Michael Spindelegger, Dieter Chmelar und Ronnie Leitgeb unterrichtete. Am dritten Arbeitstag kam jemand mit einem Anmeldeformular für den NÖAAB daher. »Ohne Mitgliedschaft wirst in Niederösterreich nix.« Das war ein derartiger Schock für mich, der es mir bis heute unmöglich gemacht hat, mich parteipolitisch zu engagieren.
Wie hat sich dann der fliegende Wechsel zum Handball ergeben?
Wir haben ein Aufwärmspiel für unsere Leichtathletinnen gesucht und erinnerten uns, dass Liese und Maria in der Schule Handball gespielt hatten. Irgendwann haben wir begonnen, in der Landesliga mitzuspielen. Handball spielen konnten die Mädels nicht, aber wir haben alle niedergerannt und erschossen. Zwei Jahre später sind wir Zweiter in der Staatsliga geworden, durften im neu geschaffenen Europacup der Cupsieger mitspielen, haben in Baku, damals Sowjetunion, zwar zweimal verloren, aber ich dachte insgeheim: So einen Bewerb will ich einmal gewinnen! Und die polnischen Schiedsrichter haben mir zugeredet, sie könnten mir helfen, gute Spielerinnen aus ihrer Heimat zu bekommen. Das waren dann meine ersten Legionärinnen, darunter Goschka Kriechbaum.
Gunnar Prokop –
seine größten Erfolge als Trainer
- mit Liese Prokop: Universiade-Meisterin 1967, Olympia-Silber 1968, EM-Gold und Weltrekord 1969 (5352 Punkte/jeweils Fünfkampf)
- mit Maria Sykora: EM-Bronze 1969, EM-Vierte 1971 (400 m), Hallen-EM-Gold 1970 (800 m) und -Bronze 1971 (400 m)
- mit Eva Janko: Olympia-Bronze und Jahresweltbestleistung (1968/Speer)
- mit Hypo Niederösterreich: Champions-League-Sieger 1989, 1990, 1992-95, 1998, 2000;
Finalist 1987, 1988, 1991, 1996, 2004 (Cup der Cupsieger), 2008
34 x österreichischer Meister (1977-2010), 23 x Cupsieger (1888-2010) - mit dem Handball-Nationalteam der Damen: WM-Bronze 1999, EM-Bronze 1996, EM-Vierter 1998, WM-Fünfter 1990
Das mit „so einen Bewerb gewinnen“ hat dann 1989 erstmals geklappt und bis zum Jahr 2000 sieben weitere Male. In deinen 19 Jahren als ÖHB-Frauensportwart gab es je einmal WM- und EM-Bronze. Nur bei Olympia wollte es nicht so recht klappen.
Wir belegten zweimal Platz fünf, wobei wir 1992 finalreif und 2000 die beste Mannschaft waren. Aber damals hatte es im Vorfeld Turbulenzen gegeben. Ich trat zurück, nachdem einige Spielerinnen bei der geplanten Dachstein-Überquerung wegen Schlechtwetters nicht mitzogen. Ich wusste, wie viel so eine Aktion mental bringen kann. „Die Psyche lenkt die Motorik“ war ja immer mein Leitspruch und hat mir mehr Erfolge eingebracht als jedes harte Training. Damals aber hatte ich mich verrannt. Zu meinem 60. Geburtstag sind die Mädchen dann geschlossen gekommen, um mich zur Rückkehr zu überreden. Mit Erfolg. Im Viertelfinale gegen Ungarn sind den Schiris in den letzten zehn Minuten elf Fehler zu unseren Ungunsten passiert. Das Video dient bei Schulungen heute noch als Beispiel, wie man einer Mannschaft jede Chance nehmen kann. Wir haben in der Verlängerung mit einem Tor verloren.
Wie ist dein Verhältnis zu den Spielerinnen heute?
Wir sehen uns einmal im Jahr beim Heurigen. 2019 habe ich die Mannschaft in mein Haus in Annaberg eingeladen. 25 sind gekommen. Wir haben gegrillt, es war herrlich.
Annaberg – deine zweite Heimat…
Dort hat es mich als Skilehrer zu diversen Jugendskikursen hinverschlagen. 1961 habe ich dann den damaligen Bürgermeister gefragt, ob er Bedarf für eine Skischule sieht. Die habe ich dann gegründet und 30 Jahre geleitet. 1972 haben wir dann unser Haus gebaut.
Du bist ein SPORTUNION-Urgestein. Was dich nicht daran gehindert hat, 1988 die „Auflösung der Dachverbände und die Zertrümmerung der BSO“ zu fordern. Hat sich deine Meinung in den letzten 32 Jahren geändert?
Was die Dachverbände anbelangt, ja. Vielleicht, weil ich einen besseren Einblick gewonnen habe, als Liese Präsidentin war. Ich bin der Überzeugung, dass man rund die Hälfte aller Ehrenamtlichen im Sport verlöre, würde man die Dachverbände zusammenlegen. Allein dadurch hat das derzeitige Konstrukt seine Berechtigung. Wobei sich meine damalige Kritik auf den Spitzensport bezog, der heutzutage ja fast ausschließlich durch die Fachverbände betreut wird. Der Breiten- Gesundheits- und Jugendsport ist bei SPORTUNION & Co. bestens aufgehoben. Für mich hat die SPORTUNION meinen Lebensstil geprägt. Wobei sich eines schon grundlegend geändert hat: die sinnlosen Grabenkämpfe zwischen den Dachverbänden haben aufgehört. Man weiß, dass man für dasselbe Ziel arbeitet.
Du bist seit zehn Jahren „nur“ mehr Beobachter der heimischen Sportszene. Was geht dir so richtig gegen den Strich?
Dass Sport in der Gesellschaft nicht den Stellenwert hat, den er bräuchte, um die Rolle für die Volksgesundheit zu spielen, die er spielen sollte. Dass der Sport mit weniger als 200 Millionen auskommen muss. Dass Wirtschafts- und Gesundheitsressort, Versicherungen keinen Beitrag leisten, obwohl sie die Nutznießer wären, wenn sich das Volk mehr bewegt. Aber es sind nicht nur Politiker und Funktionäre Schuld, die Medien sind es genauso. Dass Fußball so überbewertet wird, die Siegesserie unserer Skisprungdamen aber vergleichsweise untergeht. Dass bei uns nur über Thiem oder Muster berichtet wird, aber eigentlich kaum jemals über Tennis. In Norwegen zum Beispiel ist das völlig anders. Dort wird in den Zeitungen über alle Sportarten geschrieben. Die haben verstanden: Es gibt keine Randsportarten, es gibt lediglich Sportarten, die medial links liegen gelassen werden. Was ist die Folge dieses völlig anderen Zugangs zum Sport? Die Norweger bewegen sich um so viel mehr als wir. Und hängen uns mit halber Bevölkerungszahl in den meisten Sportarten ab.
Warum hast du noch nie daran gedacht, deine Memoiren zu veröffentlichen?
Die wären zu dick und zu schwer, wer tut sich das an? Nachgelaufen sind mir deswegen schon einige, aber mir kommt vor, das macht irgendwie schon jeder. Außerdem: Wenn ich meine Biografie schriebe, würden einige in den Häf’n gehen – oder ich! (lacht)
Text: Manfred Behr
Gunnar Prokop, mitunter bekannt für manch theatralische Pose, führte die Handball-Damen von Hypo Niederösterreich zu acht Champions-League-Titeln.